Die Juden lebten in Belarus seit langer Zeit. Welchen Einfluss übte der Krieg auf die Beziehungen zwischen Belarussen und Juden aus und welches Bild vom Holocaust blieb im Volksgedächtnis haften?

Die Geschichtswerkstatt Leonid Lewin und das Belarussische Archiv der Oral History eröffneten in Minsk den Oral-History-Club. Er soll zum Diskussionsplatz werden, wo die für die belarussische Gesellschaft wichtigen und wenig bekannten Themen aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts behandelt werden können. Die Referentin und Leiterin der Bildungsreisen der Geschichtswerkstatt Irina Kaschteljan bemerkt:

„Wir werden versuchen, aus dem „Elfenbeinturm“, in den wir hineingekrochen sind, in die Öffentlichkeit herauszukommen.

Sie teilte mit, dass in den Sitzungen des Clubs Diskussionen, Präsentationen von Forschungsergebnissen, Vorträge von Fachleuten aus Belarus und aus dem Ausland geplant werden.

Der Informationsdienst „EuroBelarus“ besuchte die erste Sitzung des Clubs, die der Erinnerungskultur des Holocaust in Belarus gewidmet war.

Zum Anfang sahen sich die Anwesenden ein Video an, in dem die Minsker Bürger nach ihrer Meinung zum Holocaust im zweiten Weltkrieg in verschiedenen Regionen von Belarus gefragt werden. Aus dem Video folgt, dass die Befragten recht bescheidene Kenntnisse darüber haben.  Dr. hist Ales Smaljantschuk erklärte die Ursachen dieses Phänomens. Eine davon sei die Widerspiegelung dieser Ereignisse in den belarussischen Lehrbüchern für den Geschichtsunterricht. So schrieben sowjetische Geschichtslehrbücher von 1982, die auch in den ersten Jahren der Unabhängigkeit im Unterricht verwendet wurden, viel von den Opfern des Naziregimes. Als dessen Opfer wurden die Slawen – Polen, Belarussen, Ukrainer, Russen - und „sowjetische Bürger“ genannt. Das Lehrbuch vom Jahre 1990 betonte sogar, dass laut Plan „Ost“ 30 Millionen Russen vernichtet werden sollten. Die erste Generation belarussischer Lehrbücher der neueren Zeit enthielt Materialien über die von Stalin in Gang gesetzte Repressalien-Maschine, das sogenannte „Schwungrad der Repressalien“, und versuchte auch die Tragödie des Holocaust gründlich aufzuzeigen. Jedoch existierten diese Lehrbücher nur 3-4 Jahre, in den nächsten Lehrbüchern (1993-2003) wurde dieses Thema nur beiläufig erwähnt. 2006 wurde das Lehrbuch zur Geschichte von Belarus für die 9. Klasse herausgegeben, in dem der Holocaust nur in einem sehr geringen Umfang erwähnt wird.

„ Ich habe den Eindruck, dass die Tragödie des Holocaust im Schatten traditioneller sowjetischer Mythen über den Großen Vaterländischen Krieg steht“- kommentiert der Historiker den Inhalt moderner Geschichtslehrbücher.

Ähnlich verhält es sich auch mit der Kunst der Nachkriegszeit. Der Kulturologe und Kunstkritker Sergej Charewskij bemerkt:

„Man sollte die Frage beantworten, warum sich die belarussische Kunst dieses Themas bisher nicht angenommen hat?“

Seiner Meinung nach, eine erste winzige, das ganze Problem auf gar keinen Fall erschöpfende Antwort auf diese Frage gibt der Künstler Jewgenig Tsichanowitsch.  Er erzählte, dass nach der Gründung des Staates Israel der Bildhauer Sair Asgur einige Kompositionen über den Schauspieler Solomon Michoels geschaffen hatte. Als aber Michoels in Minsk angeblich durch  einen Autounfall starb, verschloss sich Asgur in seinem Künstleratelier und vernichtete dort alle seine Werke, die die jüdische Thematik betrafen.

Es gibt aber eine Ausnahme – das Bild aus dem Zyklus „Zahlen auf dem Herzen“ des Volkskünstlers Michail Sawitzki, auf dem in einem recht unansehnlichen Aussehen ein Mensch mit dem Davidstern dargestellt ist. Der Maler behauptete im Konzentrationslager „Juden als Nazi-Helfershelfer“ mit eigenen Augen gesehen zu haben.

Die Aufarbeitung des Themas Holocaust in der Kunst begann erst in den Sechzigern, sagt Sergej Charewskij. In der Kriegsliteratur, die in der belarussischen literarischen Schatzkammer so reich vertreten ist, wurde dieses Thema, außer einigen wenigen recht bescheidenen Versuchen, ebenfalls kaum behandelt. 

Die Gespräche mit den Befragten während der Expeditionen zeigten nach der Meinung von Ales Smaljantschuk, dass ein gewaltiges Problem des Verständnisses des Holocaust und der Erinnerungskultur in der belarussischen Bevölkerung exsistiert. Der Historiker meint, die während der Expedition gesammelten Erzählungen über die Vernichtung der Juden seien voller Bedauern. Gleichzeitig entsteht das Stereotyp von den „verängstigten Juden“, die nie bei den Hinrichtungen Flucht ergriffen.

Im historischen Gedächtnis der Belarussen bleiben die Ursachen der Massenvernichtung der Juden während des Krieges erhalten, die die Geschichtsforscher bedingt in einige Gruppe einzuteilen vermögen. Laut der ersten Gruppe der Zeugenantworten sollen Tausende Juden wegen „ihrer Listigkeit und Nichtwilligkeit zur Arbeit“ vernichtet worden sein. Das zwingt uns, sagt der Historiker, uns skeptisch zum Stereotyp zu verhalten, nach dem die Beziehungen zwischen Belarussen und Juden immer gutnachbarschaftlich und aufrichtig gewesen sind. Die zweite Gruppe der Antworten bezieht sich auf die „persönliche Rache Hitlers“ den Juden gegenüber. Es gibt auch Vorstellungen über die Juden als ein „verdammtes Volk“, das am Tod Jesus Christus schuldig sei (diese Meinungen sind in den westlichen Regionen von Belarus verbreitet). Manchmal tritt in den Erinnerungen der Befragten die „Blutverleumdung“ auf, die besagt, dass die Juden das Blut der Christkinder zu rituellen Zwecken missbrauchten. Es gab auch Meinungen, dass die Deutschen die Weltherrschaft anstrebten und weil die Juden zu den Deutschen am nächsten stünden, sollte man sie töten.

Nicht selten wurden die Verbrechen gegen die Juden nicht von den Okkupanten, sondern von den Mitbewohnern der Dörfer selbst verübt – sie zeigten die Juden an oder töteten sie sogar. Als Judenmörder traten auch örtliche Partisanen auf. Jedoch als Gegenstück gibt es Erinnerungen daran, wie die Mitbewohner den Juden halfen und sie retteten.

Die Experten berichten darüber, dass die Menschen während des Krieges keine klare Vorstellung von dem Ausmaß der Tragödie hatten. Sie glaubten, dass die Juden gerade aus den großen Städten evakuiert worden waren. Niemand glaubte, dass man überall große Ghettos einrichtete. „Die meisten Befragten ahnten die Globalität der Katastrophe nicht“, – stellt Ales Smaljantschuk fest.

Inzwischen bemerkt der Historiker, dass während des Krieges keine Solidarität auch unter den Belarussen herrschte: nicht selten kam es dazu, dass die belarussischen Mitbewohner in die Häuser der umgebrachten Juden einzogen oder ihr Vermögen nahmen. „Dieses Andenken ist sowohl für die Toten als auch für die Lebendigen von großer Wichtigkeit, denn es sagt  über uns, Belarussen, viel aus“ – resümiert Ales Smaljantschuk.

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Der Oral-History-Club plant monatliche Sitzungen. Das nächste Thema betrifft der Teilung der Belarusen in „West- und Ostbelarussen“ - inwieweit dieser Begriff heute noch lebendig ist.

 

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